Herbstdepression

Herbstdepression
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Es mag an der Jahreszeit gelegen haben, an der frühen Dunkelheit oder vielleicht auch am erreichten Alter, dass ich in den letzten Tagen Anzeichen einer Herbstdepression bei mir verspürte. Gepaart mit den angsterfüllten Gedanken über die Zukunft. Schließlich wird die Zeit jenseits der Fünfzig knapp, dem Leben entscheidende Wendungen zu geben und die Zahl der verpassten Chancen hat sich auf ein erkleckliches Sümmchen angesammelt. Also musste bereits der erste Schokoladennikolaus sein Leben opfern und war die DVD-Box mit Staffel 4 von Star Trek: Enterprise der einzige Lichtblick in diesen trüben Tagen.

Zu allem Überfluss war ich auch noch auf einem Firmenjubiläum eingeladen, auf dem Menschen, kaum älter als ich, von ihren Häuschen in der Toscana oder wahlweise der Segeljacht erzählten und wie sie dort ihren baldigen Ruhestand verleben wollten. Deutlicher hätte man mir mein Elend nicht vor Augen führen können. Dass ich der einzige Single an diesem Abend war, hat meine Stimmung ebenfalls kaum steigern können.

Da saß ich dann am Samstagmorgen in meinem Lieblingsbistro mit dem aufgeklappten Netbook vor mir, das sehnlichst auf neue Geschichten zur Killerin in Grefrath wartete, aber in meinem Kopf war nur Leere. Und die Hauptperson in meinen Gedanken war nicht Biene Hagen sondern ich selbst. Als mir dann am Abend bewusst wurde, dass weiteres Hineinstopfen von Süßigkeiten kaum dauerhaft die Stimmung heben würde, machte ich mich spontan auf den Weg in die große Stadt nach Düsseldorf. Ich reihte mich ein in den endlosen Strom der Geschenkekäufer, betrachtete die Lichter der Stadt und sog die belebende Stimmung ein. Spontan rief ich eine Freundin an und fragte, ob sie nicht Lust hätte, einen Glühwein mit mir zu trinken. Sie hatte und so genossen wir den herrlichen Abend gemeinsam.

Am Sonntag war ich mit einer lieben Freundin zum Frühstück verabredet. Sie hatte ein Café vorgeschlagen, in dem  ich zuvor noch nicht war. Wir unterhielten uns angeregt über meine aktuelle Krise und das Leben. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, lächelte und sagte, dass ich doch nur mal schauen sollte, was ich alles erreicht hätte. Und jedes Mal war da Widerspruch in mir. Im Herausgehen fasste ich dann aber einen spontanen und für mich selbst überraschenden Entschluss. Ich drehte um und fragte den Besitzer des Lokals, ob sie auch Veranstaltungen und speziell Lesungen in ihrem Lokal anbieten würden. Er bejahte es und ich schilderte ihm, dass ich Autorin sei und bereits mehrere Bücher herausgegeben hätte. Dabei überreichte ich ihm meine Visitenkarte, auf der in großen Lettern „Vera Nentwich – Autorin, Bloggerin“ prangt. Als wir das Café verlassen hatten, blitzte zum ersten Mal in den letzten Tagen ein Gedanke auf. Könnte es womöglich doch nicht ganz so schlecht um mich stehen?

Am Abend dann hatte ich mit dem Soulville Jazzsingers einen Auftritt im Rahmen eines Gottesdienstes zum Welt-Aids-Tag und veranstaltet von der Aids-Hilfe Düsseldorf. Das Thema war Ausgrenzung. Im Laufe des Gottesdienstes schilderten Betroffene, wie sie Ausgrenzung erlebt haben. Plötzlich stand ein transsexueller Mann auf und erzählte unter Tränen, was ihm widerfahren war. Mir stockte das Herz und mit einem Mal war mir klar, welches riesige Glück ich habe. Ich habe die Ausgrenzung nie erfahren – ok, von einigen erschrockenen Blicken verschiedener Männer will ich hier mal absehen – und konnte dort in der Kirche auf dem Podest in Mitten des Chores stehen, meine Tenorstimme erheben und aus vollem Herzen singen.

Das der Tag mit einem Gänseessen im Lieblingsbistro im Kreise toller Freundinnen ausklang, war das Sahnehäubchen auf ein bewegendes und erhellendes Wochenende. Die Schokoladennikoläuse müssen in den nächsten Tagen nicht um ihr Leben fürchten und die letzte Enterprise-DVD ist angeguckt. Das Leben hat mich wieder. Ich mag Single sein und kein Haus in der Toscana besitzen, aber ich bin ein glücklicher Mensch.

Tote singen selten schief

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