Vom Pfeifen im Walde

Vom Pfeifen im Walde
Singen Gäste 4 Kommentare

Singen spielt in meinem Roman "Rausgekickt: Blaue Vögel" und in meinem Leben eine große Rolle. In ihrem Gastbeitrag beschäftigt sich Dr. Annette Brunsing mit der beruhigen Wirkung des Singens.



Wenn ein Mensch allein durch einen dunklen Wald geht, hat er im Allgemeinen Angst. Er kann sich nicht mehr auf seine Fähigkeiten verlassen. Orientierung fällt bei Dunkelheit schwer oder ist gar unmöglich, für den rechten Weg gibt es keine Orientierung, Gefahren kann man nicht zeitig genug sehen und ihnen ausweichen oder dagegen kämpfen. Selbst normales Gehen fällt schwer, weil man die Unebenheiten des Waldbodens nicht wahrnehmen kann, falls man sich überhaupt noch auf dem Weg befindet. Hinzu kommen die fremden Geräusche und das Unvermögen, einzuschätzen, wo man ist und wie weit es noch „nach Hause“ oder zum nächsten bewohnten Ort oder Haus ist.

Die selbe Wirkung hatte bis vor nicht langer Zeit der Gang in den Keller. Was machen Menschen, die Angst entwickeln? Sie pfeifen. Sie machen sich Mut dadurch, dass sie mit Hilfe von Geräuschen ihr Terrain markieren, und geben gleichzeitig zu erkennen, wo sie sich befinden, immer in der Hoffnung, dass ihnen geholfen wird. Auf diese Weise wird das Gefühl der eigenen Unterlegenheit verdrängt, und das Pfeifen fungiert als einzige Orientierung.

Aber man ist ja nicht so oft und schon gar nicht unfreiwillig allein bei Nacht im Wald, und auch der Keller, wenn er denn modern ist, hat seinen Schrecken verloren. Die heutige Angst findet für alle und kaum erkennbar im Alltag statt. Menschen, Situationen oder Herausforderungen werden als angst machend erlebt. Der Mensch igelt sich ein, spricht nicht mehr und erweckt nach außen hin den Eindruck, es sei alles in Ordnung. Aber die Angst verschwindet nicht, im Gegenteil, sie wird größer. Was kann man dagegen tun?

Wenn man sich seiner Angst bewusst wird und so nicht weiter leben möchte, kann man sich Hilfe bei einem Psychologen holen. Oder man kann mit einer Freundin darüber sprechen. Oder – man kann singen!

Anthropologen wissen, dass es im Gehirn des Menschen einen Bereich gibt, der Mandelkern oder Amygdala genannt wird. Er liegt im Limbischen System und ist für das Entstehen von Empfindungen zuständig, also auch für das Entstehen der Angst. Das Interessante hierbei ist, dass sich durch Phänomene, die das Gefühl ansprechen, z. B. Musik, der Mandelkern als Sitz ebenfalls von Gefühlen, beeinflussen lässt: Man pfeift oder singt und reduziert dadurch seine Angst.

Wenn man singt, vertieft sich automatisch die Atmung. Den Ton erzeugen die Stimmlippen, aber am Singen beteiligt ist der ganze Mensch mit Körper, Seele und Geist. Es entstehen Schwingungen, die auf den singenden Menschen zurückwirken und ihn in eine bessere Stimmung versetzen. Das Singen befreit ihn von der Angst. Ein Mensch mag noch so unsicher sein, noch so sehr angst vor anderen Menschen oder vor schwierigen Situationen haben. Wenn er singt, hat er eine Hilfe, sein Leben zu meistern, seine Probleme zu bewältigen und seine Angst zu überwinden.

Die Begriffe „Stimme“ und „Stimmung“ haben denselben Wortstamm. Wenn man die Stimme auf rein mechanische Weise durch Übungen verbessert, kommt man allmählich auch in eine bessere Stimmung. Umgekehrt gilt dasselbe: Wenn man in einer guten Stimmung ist, geht auch die Stimme besser. Sie ist klangvoller, freier, und der Mensch hat eine positivere Ausstrahlung. Das wussten die Menschen schon seit Jahrtausenden. Gesang entstand durch die Anbetung des Numinosen, das man selbst nicht benennen durfte. Aber durch die erhobene Stimme, d. h. durch den Gesang, konnte man Gott verehren. So gesehen ist jeder Gesang auch irgendwie ein Gebet und hat auch dieselbe Wirkung. Natürlich ist uns, wenn wir Angst haben, nicht unbedingt zum Singen zumute. Aber selbst wenn das Singen einfach mechanisch getan wird, hat es eine Wirkung, und nach einiger Zeit wechselt man die Absicht: Man singt nicht mehr, weil man etwas einübt, sondern man singt, weil man das Gefühl erleben möchte, das erhebende Gefühl, das dann die Angst endgültig abgelöst hat.

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Dr. Annette Brunsing

Dr. Ânnette Brunsing

Annette Brunsing ist ausgebildete Opernsängerin, Dozentin für Musikwissenschaft und Sprecherziehung. Sie hat Psychologie studiert, hält Vorträge und Seminare und ist Autorin.
Web: Atem Stimme Sprechen


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Mehr zum Thema im kommenden Roman und natürlich hier.

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4 Kommentare Vom Pfeifen im Walde
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  • Pfeifen auf der dunklen Straße?

    Es ist schon seltsam: im Wald oder im Keller scheint das Pfeifen gegen die Angst zu helfen; als Kind habe ich es genauso gemacht. Läuft man aber im Dunkeln durch eine schlechtbeleuchtete Straße, ist man lieber still – vermutlich, weil man eben keine Aufmerksamkeit erregen will. Wie sieht die Fachfrau das?

    • Pfeifen auf der dunklen Straße?

      Das ist ein interessanter Aspekt. Ich denke aber, dass Singen in dieser Situation auch beruhigen würde. Wenn man sich nur trauen würde. Ich leite Deine Anmerkung an Frau Dr. Brunsing weiter. Vielleicht kann sie es fachlich erläutern.

    • Pfeifen auf der dunklen Straße?

      Vermutlich rechnet man im Keller und im Wald nicht wirklich mit Bösem, vertreibt aber mutmaßlich vorhandene "wilde" Tiere (Mäuse im Keller, alles, was im Wald fleucht) mit dem Pfeifen und gibt sich außerdem den Anschein völligen, sorglosen Entspanntseins.

      In einer dunklen Straße würde man mit jeglicher Geräuschproduktion ggf. Böse Buben zu sich locken, was man viel eher vermeiden möchte.

      • Pfeifen auf der dunklen Straße?

        Da ist was dran.Wenn ich nachts aus dem Theater kam und nach Hause ging, habe ich tatsächlich weder gesungen noch gesummt. Aber ich habe darauf geachtet, sicher und angstfrei zu gehen, habe entgegenkommende Fußgänger angeschaut und mich nicht klein gemacht. Irgendwann kam mir der Gedanke: vielleicht hat der/die ja genauso viel Angst wie ich. Das löste mindestens ein Lächeln bei mir aus. Und übrigens gilt auch: wenn du lachst, ist die Angst ebenfalls weg!

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