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Wenn ich die EU von allen Seiten beleuchten will, ist es wichtig, die Ansichten der verschiedenen politischen Richtungen zu kennen. Daher habe ich bei Özlem Demirel angefragt und um ein Gespräch gebeten. Die EU-Abgeordnete der Linken sagte auch direkt zu und so trafen wir uns, wie es in dieser Zeit üblich ist, zu einem Online-Meeting.
Meine 30 Minuten mit Frau Demirel
Ihr Vormittag war durchgetaktet und ihre Assistentin teilte mir vorab mit, dass wir exakt dreißig Minuten zur Verfügung hätten. Frau Demirel wirkte angespannt auf mich, als ihr Videobild vor mir erschien. „Wie ist es, wenn man als neue Abgeordnete in das EU-Parlament kommt?“, wollte ich als Einstieg von ihr wissen. Doch zuerst setzte sie an, mir ihre Botschaft mitzuteilen. Sehr leidenschaftlich erzählte sie von ihrem Ziel, Europa sozialer zu machen und dafür zu sorgen, dass mehr auf Diplomatie und nicht auf Militär gesetzt würde. Als Mitglied im Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung (SEDE), sowie Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und Soziales (EMPL) sind dies ihre Schwerpunktthemen. Spontan erhielt ich ein Gefühl dafür, was Journalisten tagtäglich erleben, wenn sie Politiker befragen. Ich hörte genau zu, was sie sagte und war dann versöhnt, als sie im Nachsatz auf meine Frage zurückkam und erläuterte, dass sie die parlamentarische Arbeit grundsätzlich nicht für ausreichend erachten würde, denn die Macht des EU-Parlaments sei begrenzt. Zudem sei die Redezeit im EU-Parlament auf eine Minute beschränkt, erläuterte sie. Nicht genug, Themen tiefgreifend zu erörtern. Als Schluss daraus sieht sie ihre Aufgabe mehr darin, die Menschen über die Dinge aufzuklären, die nach ihrer Meinung einer Handlung bedürfen.
Das Volk soll Druck ausüben
Özlem Alev Demirel
Die EU-Abgeordnete der Linken wurde 1984 in Malatya (Türkei) geboren und flüchtete
1989 mit der Familie nach Deutschland, Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist Politologin. Bis zum Einzug in das Europaparlament war sie Gewerkschaftssekretärin bei ver.di.
Nach ihrer Meinung kann es nur eine Veränderung in die von ihr gewünschte Richtung geben, wenn das Volk, also alle Bürger der EU, den entsprechenden Druck ausübt. „Aber ist es nicht eine sehr pessimistische Sicht auf die Möglichkeiten der parlamentarischen Arbeit?“, wendete ich ein. „Nein, es ist realistisch“, erwiderte sie. Dennoch machte sie deutlich, dass sie ihre Arbeit im Parlament als wichtigen Bestandteil des demokratischen Prozesses ansieht und insbesondere die Arbeit in den Ausschüssen, in denen sie ist, durchaus als wichtig betrachtet. So sei sie aktuell u.a. mit dem Rüstungsexportbericht oder auch den gerade startenden Kompromissverhandlungen des von ihr verfassten Entwurfs zur Reduzierung von Ungleichheiten in der EU mit besonderem Blick auf Armut trotz Erwerbsarbeit beschäftigt.
Corona-Hilfspaket der EU – doch kein Erfolg?
Nach Einigung des Ministerrats der EU auf das Corona-Hilfspaket und den Finanzrahmen für die kommenden Jahre wurde dies vielfach als Erfolg gefeiert. Frau Demirel ist aber anderer Meinung. „Die 390 Mrd. €, die als Zuschüsse gezahlt werden sollen, sind viel zu wenig“, stellte sie fest. Sie verweist auf den viel höheren Betrag, den alleine Deutschland für Hilfsmaßnahmen im eigenen Land ausgelobt hat. Zudem betonte sie, dass in der Einigung gesagt wird, die Zuschüsse sollen an Reformen gebunden werden. Allerdings sind diese geforderten Reformen noch nicht definiert. Sie erinnerte an Griechenland, das nach ihrer Meinung ausgepresst und ausgeblutet worden sei.
Zur Unterstreichung ihrer Aussage erwähnte sie das „Europäische Semester“, ein Konzept der EU, das wirtschaftspolitische Entwicklungen und Strukturreformen zusammenführen und zur besseren Durchsetzung notwendiger finanz- und wirtschaftspolitischer Reformen beitragen soll. Laut einer Studie ihres Kollegen Martin Schirdewan geht hervor, dass von 2011 bis 2018 die Kommission u.a. 63 Mal dazu aufgefordert hat im Gesundheitswesen Kürzungen, Auslagerungen oder Privatisierungen vorzunehmen oder auch Kürzungen von z.B. Rentenleistungen durchzuführen.
Ich kann diese Kürzungen im Detail nicht beurteilen und warf im Gespräch ein, dass das Corona-Hilfspaket und der damit verbundene Finanzrahmen der EU für die nächsten Jahre Ergebnisse einer sehr schwierigen Verhandlung waren, und fragte nach, wie sie es sich vorstellte, dass es aus ihrer Sicht besser laufen könnte. Auch hier, stellte sie klar, sieht sie nur die Möglichkeit, dass das Volk den entsprechenden Druck ausüben müsse.
Heuchelt die EU?
Nun scheint dieses Volk sehr unterschiedliche Sichtweisen in den verschiedenen Ländern zu haben. Ich erwähnte die Entwicklungen in Polen, Ungarn und anderen Ländern hin. Wie stellt sie sich hier eine Lösung vor?
Ihre Antwort darauf war klar: „Wenn die EU die Werte nicht durchsetzen kann, dann muss sie mit der Heuchelei aufhören, sich als Wertegemeinschaft darzustellen.“
Auch wenn ich mich mit dem Begriff der Wertegemeinschaft in Anbetracht so mancher Entwicklung auch hin und wieder schwertue, so musste ich doch einwerfen, dass eine Abkehr von diesem Begriff und damit auch von diesem Ziel, doch noch weniger helfen würde. Eine Lösung dieser Diskrepanz konnte mir Frau Demirel leider nicht anbieten.
Özlem Demirel und Rosa Luxemburg
Das Signal zum Ende der Gesprächszeit leuchtete auf und bei Frau Demirel kündigte sich bereits das nächste Telefonat an, so dass nur noch Zeit für eine kurze Verabschiedung blieb. Ich hatte einige Fragen gestellt und für mich zum Teil unerwartete Antworten gehalten, mit denen ich mich noch zu beschäftigen habe. Kurz vor unserem Gespräch hatte ich eine Dokumentation über Rosa Luxemburg gesehen. Die Aufrufe der Heldin des Sozialismus zur Revolution als einzigen Weg, das Gesellschaftssystem zu verändern, kamen mir in den Sinn. Frau Demirels Forderung nach dem Druck des Volkes bekam für mich plötzlich eine ganz andere Dimension. Ich muss gestehen, dass ich dann doch lieber auf einen demokratisch legitimierten, parlamentarischen Weg zur Optimierung setze. Allerdings sind informierte Bürger, die den Parlamentsvertretern ihre Wünsche mitteilen, in aller Interesse. Ich hoffe, mit meinen Artikeln ein wenig dazu beizutragen. Vielleicht verbindet mich dann doch mehr mit Frau Demirel, als ich es gedacht habe. Dieses Gespräch ist auf jeden Fall Motivation genug, meine virtuelle Entdeckungsreise zur EU weiter zu verfolgen.
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